Totale Freiheit

Kann Freiheit total werden? Kann sich der Liberalismus totalisieren? Erleben wir das gerade? Einiges spricht dafür. Ein Gedankenexperiment.

 

„Das 19. Jahrhundert hat drei große Ideologien hervorgebracht: den Nationalismus, den Sozialismus und den Liberalismus; die ersten beiden haben ihre totalitären Phasen bereits hinter sich.“ Diese Feststellung stammt von einem befreundeten Soziologen. Sie ist mir hängen geblieben. Und ich denke umso öfter an sie, je weiter wir uns ins 21. Jahrhundert hineinbewegen. Lässt sich, was wir heute und in absehbarer Zukunft erleben, als die totalitäre Phase des Liberalismus, als die Totalisierung unserer Freiheit beschreiben?

Was aber bedeutet Totalisierung? Die drei großen Ideologien des 19. Jahrhunderts übersetzten die Ideale des 18. Jahrhunderts – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in politische Programme. Das 20. Jahrhundert war dann die Epoche ihrer unbedingten Realisierung. Die Totalisierung der Gleichheit im ehemals ‚real existierenden‘ Sozialismus bestand in der politischen Durchsetzung einer angeblichen Gesetzmäßigkeit der Geschichte (Klassenkampf) mit kollektiv-diktatorischen Mitteln. Die Totalisierung der Brüderlichkeit in den Gemeinschaftsideologien des radikalen und faschistischen Nationalismus bestand in der politischen Durchsetzung einer angeblichen Gesetzmäßigkeit der Natur (Rassenkampf) mit den Mitteln des staatspolitischen Terrors.

Was könnte die Totalisierung der Freiheit sein? Die Gesetzmäßigkeit, die der Liberalismus proklamiert, heißt – laissez faire: gewähren lassen. Das meint nicht einen trägen oder gar anarchischen Fatalismus, sondern die Überzeugung, dass die Gesellschaft gerade dann gesetzmäßig funktioniert, wenn man ihren inneren Antrieben freien Lauf lässt. Zu diesen gehört alles, was den Menschen produktiv macht: das Streben nach Glück, das Streben nach Reichtum, das Streben nach individueller Erfüllung. Dass jedes Individuum (und jedes Kollektiv) Glück, Reichtum und Erfüllung anstrebt, dass es produktiv sein will, ist das Grundgesetz des Liberalismus. Ein produktives, selbsterfülltes und selbstbestimmtes Leben ist der moralische Imperativ einer freiheitlichen Gesellschaft.

Wer darin an sich bereits den Keim des Totalitären sehen will, wie es von radikal-linker Seite bisweilen behauptet wurde, ist auf dem Holzweg. Man muss schon genauer fragen, wann und wie ausgerechnet die Freiheit zum Zwang werden kann. Das wäre etwa dort der Fall, wo die Freiheit nicht mehr Zweck ist, sondern zu einem Mittel für anderes wird; wo die Freiheit, selbstbestimmt und produktiv zu sein, umschlägt in eine produktive Selbstbestimmung als Bedingung der Freiheit. Und davon ist unsere spätmoderne und spätkapitalistische Gesellschaft in der Tat stärker geprägt als jede andere Epoche der Geschichte. Von der Politik über den Markt und die Öffentlichkeit bis zu weiten Teilen der Kunst und Populärkultur werden wir – oft unter Verweis auf frühere Fremdbestimmungen – immer noch und immer wieder aufgefordert, wir selbst zu sein, uns selbst zu erfüllen, so produktiv es nur geht. Besonders seitdem die liberale Demokratie 1989/90 ‚alternativlos‘ wurde, lautet unser politisch-moralischer Anspruch, Freiheit nicht bloß zu haben, sondern zu leben, zu nutzen, zu gestalten, etwas aus ihr zu machen. Freiheit wird zunehmend performativ verstanden. Nur eine aktiv gelebte Freiheit, nur Freiheit als teilhabende Lebensform, garantiert auch die Freiheit als Recht und Raum.

Selbstbestimmung und Selbsterfüllung sind das große Versprechen unserer heutigen liberalen Demokratie und zugleich ihr Gebot. Wie Sozialismus und Nationalismus setzt auch der Liberalismus auf die Optimierung der Gesellschaft. Dass die Freiheit nicht eingeschränkt werden darf, ist ihm ebenso heilig wie das Gesetz, dass die Freiheit kein Privileg ist. Sie muss ständig verdient, verteidigt und gestaltet werden. Diesen Aktionismus, diesen ständigen Aufruf zur Arbeit am Ideal, teilt der Liberalismus mit der sozialistischen und der nationalistischen Ideologie. In jeder Hinsicht muss, was das 18. Jahrhundert erträumte, erst noch geleistet werden. In den totalitären Phasen der beiden anderen Ideologien aber übernahm der Staat diese Aufgabe oder zumindest ihre Leitung: Er stellte das totale Programm bereit, nach dem die Gesellschaft zu ihrer Selbsterfüllung gebracht werden sollte. Genau das aber ist dem Liberalismus von Haus aus zuwider; denn er repräsentierte von Anfang an den Vorrang der Gesellschaft gegenüber der Politik. Seine Utopie ist eine Gesellschaft ohne Regierung.

Eine Totalisierung des Liberalismus wäre also ein Vorgang, der nicht vom Staat ausgeht, sondern von der Gesellschaft; totale Liberalisierung würde nicht den Staat zum Instrument der Herstellung idealer Zustände machen, sondern die Gesellschaft selbst. Es wäre ein Vorgang, in dem aus der Gesellschaft heraus Modelle ihrer Neuordnung entstehen, die übergreifend drei Ziele verfolgen: Emanzipation vom Staat, Gestaltung der Freiheit und produktive Selbsterfüllung. Es wäre – zugespitzt formuliert – ein Aufstand der Gesellschaft gegen den Staat, gegen ihre eigene politische Ordnung und für ihre radikale Selbstbestimmung und Selbstordnung. Das bedeutet zugleich, dass sich die Totalisierung des Liberalen kaum als ein Ereignis vollziehen kann, weder als Revolution noch als ‚Machtergreifung.‘ Vielmehr wäre sie ein Prozess der laufenden Selbstermächtigung verschiedener gesellschaftlicher Interessen, die dezidiert auf ihre politische Repräsentation verzichten, ihre eigenen Organisations- und Kommunikationsformen entwickeln und dabei ihre jeweiligen Annahmen zur Stimme ‚der‘ Gesellschaft erklären.

Größer werdende Teile der Gesellschaft feiern ihren Rückzug aus dem Raum des Politischen als Selbstermächtigung und neue Formen der Politik helfen ihnen dabei.

Anfänglich sähe das zunächst aus wie eine vielfältig engagierte Gesellschaft, die ihre Interessen oder Problemlagen zu Gehör bringt. Doch wenn sich als gemeinsamer Nenner dieses vielfältigen Engagements die Identifizierung des je eigenen Anliegens mit der Gesellschaft schlechthin erweist; wenn zugleich der politische Streit darüber und die Politik als Arena der Aushandlung verweigert wird; und wenn eben das zur lebendigen Freiheit und wahren Demokratie erklärt wird – dann liegt die Grundstruktur einer Gesellschaft vor, die sich ausgerechnet im Namen der Freiheit und der Demokratie in den Zustand eines ‚Kalten Bürgerkriegs‘ bringt, in dem Freiheit nur noch Selbstermächtigung und Demokratie nur noch ‚Gesellschaft‘ (und nicht mehr Politik) ist.

Das Politische aber – im demokratisch-freiheitlichen Sinne – ist weder die Lenkung und Formung der Gesellschaft noch deren Selbstermächtigung. Vielmehr ist das Politische notwendig, gerade weil wir Gesellschaft und keine homogene Gemeinschaft sind. Das Politische ist der Raum, in dem wir unsere gesellschaftliche Heterogenität und Pluralität aushandeln und austragen. Das Politische ist unsere Freiheit. Wo immer konkrete totalitäre Politik die Gesellschaft zu homogenisieren suchte, musste sie als Erstes diesen Freiraum des Politischen abschaffen, um dann die Gesellschaft zu ‚politisieren‘. Und regelmäßig halfen ihr dabei weite Teile der Gesellschaft in der Hoffnung auf Selbstermächtigung. Heute und in Zukunft könnte es umgekehrt sein: größer werdende Teile der Gesellschaft feiern ihren Rückzug aus dem Raum des Politischen als Selbstermächtigung und neue Formen der Politik helfen ihnen dabei.

Vor diesem Hintergrund lässt sich eine erste provisorische Bestimmung der Totalisierung von Freiheit formulieren: Sie bestände in der gesellschaftlichen Durchsetzung einer angeblichen Gesetzmäßigkeit des ‚Lebens‘ (produktive Selbstbestimmung) mit den Mitteln der Auflösung des Politischen. – So weit ist es noch nicht, doch Tendenzen in diese Richtung sind unverkennbar. Plausibilisiert werden diese zudem noch durch unsere historisch ‚gelernte‘ und bis heute gelehrte Grundannahme, dass die Freiheit immer auf Seiten der Gesellschaft und der Zwang immer auf Seiten der Politik liegt. Nach der Erfahrung der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, in denen der Staat die Gesellschaft gesetzmäßig formen und gestalten wollte, fällt es uns schwer, umzudenken und den Zwang auf Seiten der Gesellschaft zu suchen. Das Vertrauen in die Gesellschaft und das Misstrauen gegen Staat und Politik sitzen gleichermaßen tief. Doch könnte es sein, dass wir im Laufe des 21. Jahrhunderts ausgerechnet Staat und Politik gegen die Gesellschaft verteidigen müssen. Zumindest wenn wir vermeiden wollen, dass die Gesellschaft beginnt, im Namen von Demokratie und Freiheit das Politische abzuschaffen.

Christian Geulen ist Professor für Geschichte an der Universität Koblenz-Landau.

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