Sie schrumpft!

Ein großer Forscher und ein Gemeinderat unterhalten sich über Asteroidenrelikte.

 

"Sie sind also auch Steinsammler?", fragte der Gemeinderat. 

"Nein, direkt Sammler bin ich nicht", sagte der Riese. Ein Riese war er wirklich, er maß deutlich über zwei Meter. 

"Sie wollen meine Sammlung besichtigen, haben Sie am Telefon gesagt. Die zeige ich aber nicht jedem ohne Weiteres, vielleicht sagen Sie mir erst mal ..."  Der Gemeinderat bemühte sich um gutes Hochdeutsch, denn dass der lange Berliner Bairisch verstand, war ausgeschlossen.

"Ich forsche über Asteroidenrelikte", sprach der Riese. "Und ich habe recherchiert, dass Sie vor dreißig Jahren hier in einem Acker bei Sondermoning ..."

"Ja, die kleinen schweren Steine! Das Tagblatt hat sogar ein Foto gebracht. Auch eines von mir als Entdecker."

"Diese Steine waren schwarz, sehr schwer und sprachen auf Ihre Metallsonde an."

"So war's. Und zwar sind das Splitter von dem Kometen oder was, der bei Marwang eingeschlagen ist. Als Forscher kennen Sie ja sicher, ich sag's gleich auf Englisch: the Tüttensee Impact. Nicht lang vor Christi Geburt war das. Es gibt allerdings verschiedene Ansichten darüber."

"Ich weiß. Haben Sie die Steine noch?"

"Ja freilich! In meiner Sammlung."

"Wo haben Sie die?"

"Hinten im ehemaligen Stall. Da sind im Lauf der Zeit so viele interessante Funde zusammengekommen, die haben immer mehr Platz gebraucht. Jetzt ist alles in einer großen Transportkiste, das Zeug soll ins Museum. Und das Sammeln habe ich längst aufgegeben, ich hab's im Kreuz und bücke mich nicht mehr gern." 

"Wann haben Sie die Kiste zuletzt überprüft?"

"Vor zehn Jahren. Jetzt muss ich mich aber allmählich wundern! Worauf wollen Sie denn hinaus? "

"Sie haben Recht, ich sollte das erklären. Und ich muss dazu etwas ausholen. Es ist nämlich so, dass die Erde schrumpft."

"Hä?"

"Sie schrumpft. Gilt bisher nur als Theorie und wird nach Kräften bezweifelt, ja richtig totgeschwiegen, aber wir halten daran fest: Sie schrumpft doch!"  

"Und was hat das jetzt mit meiner Sammlung ..."

"Kommt noch, kommt noch! Fast alles auf der Erde - es gibt nur wenige Ausnahmen - schrumpft mit ihr mit: Länder, Grundstücke, Häuser, Pflanzen, Lebewesen, was auch immer. Fällt natürlich niemandem auf ..."

"Fallen da jetzt die Grundstückspreise? Mir wird ganz damisch im Kopf, ich glaub, ich brauch ein Bier!"

"Halten Sie noch durch! Die Grundstückspreise fallen nicht, weil alles im bisherigen Größenverhältnis bleibt. Man merkt die Veränderung nicht."

"Aber Sie - Sie merken das also! Haben Sie darüber schon einmal mit einem ..."

"Nein, ich habe mit keinem Arzt gesprochen, gehen Sie mir damit! Ärzte sind völlig ungeeignete Gesprächspartner, sie denken nicht ganzheitlich, und das Weltall ist für sie ein Fremdwort. Da finden wir keinerlei Verständnis."

Der Gemeinderat fasste sich, wurde plötzlich ruhig wie ein Tierbändiger, wirkte aufgeräumt:

"Ja ja, die Mediziner! Da habe ich auch Sachen erlebt! Aber sehr interessant, was Sie sagen!" Nur nichts anmerken lassen, dachte er, dem Mann freundlich zuhören und ihn beobachten! Wer jahrzehntelang an Gemeinderatssitzungen teilgenommen hat, erkennt sofort, wenn er einen Irren vor sich hat. Nun ist die Grenze zwischen Forschern und Irren nie leicht zu ziehen. Aber dieser Fall war eindeutig. Die Konversation konnte noch erheiternd werden. Aber er überlegte doch schon, wie er diesen Riesen wieder aus dem Haus bekam - wenn der sich sträubte, um ewig weiterzureden, wurde es schwierig. Vielleicht halfen die Burschen von der Freiwilligen Feuerwehr.

"Jetzt möchte ich nur wissen", fragte der Gemeinderat, "warum schrumpft sie denn, die Erde, gibt es dafür ein Motiv oder so was?" 

"Die Erde schrumpft nicht nur so zum Spaß", antwortete der Riese, "sondern - aber wissen Sie, diese Erklärungen erspare ich Ihnen doch lieber. Ich müsste da sehr physikalisch werden. Es geht um die Entwicklung eines Sterns zum Schwarzen Loch, und die beginnt … - "

"Unmerklich!"

"Sie sagen es. Mit der Schrumpfung und mit lauter Nebenfolgen dieser Schrumpfung. Vergessen Sie alles, was Sie über die Gründe der Erderwärmung ..."

"Halt halt, Augenblick! Wenn ich mit einem ganz normalen geeichten Zollstock ..."

"Der schrumpft doch mit! Genau wie beispielsweise auch das Pariser Urmeter."

"Nach dem richtet man sich ja gar nicht mehr", wusste der Gemeinderat. "Die messen jetzt mit der Wellenlänge des Lichts."

"Genau das ist der Punkt! Und damit würde sich augenblicklich herausstellen - hat sich schon herausgestellt ..."

"… dass sie schrumpft."

"Genau! Aber man enthält uns alle Messungsergebnisse vor. Die Sache ist für streng geheim erklärt worden. Ich komme nicht einmal an die bisherigen Gesteinsproben aus dem Weltall heran, da stehen Wachtposten mit entsicherten Waffen ..."

"Diese Relikte von Asteroiden - ich habe mitbekommen, dass durch sie vielleicht das Leben hier entstanden ist, die DNA ist aus dem Weltraum gekommen, heißt es, sonst hätte sich bei uns eine Ewigkeit lang nichts getan."

"Ja ja, das war mal im Fernsehen. Ich möchte mich dazu nicht äußern. Ausdenken kann man sich ja manches, aber wir Forscher ..."

 "Also - was ist denn jetzt mit diesen besonderen Steinen?"

"Sie schrumpfen nicht!"

Köstlich war das! Der Gemeinderat unterdrückte erfolgreich ein lautes Gelächter. "So was aber auch! Ist das wirklich wahr?"

"Ja, sie schrumpfen nicht mit. Und damit lässt sich auch beweisen ..."

"Ich weiß schon. Dass alles andere schrumpft."

"Exakt."

"Oder fast alles, wie Sie gesagt haben. Es gibt also noch mehr, was so groß bleibt, wie es ist?"

"Ja, einige Lebewesen, auch Menschen, aber das ist äußerst selten, und es gibt bisher auch keine Erklärung dafür. Ich bekenne: Das ist mein eigentliches Forschungsgebiet. Aber zunächst muss ich mir Gewissheit verschaffen ..."

"Dass sie überhaupt schrumpft, klar. Ich glaube aber, ich weiß die Antwort schon: Da gibt es Wesen von anderen Sternen, die auf der Erde geblieben sind und Nachkommen haben. Die schrumpfen natürlich nicht mit."

"Donnerwetter! Aus Ihnen spricht die reinste Logik, Sie überraschen mich!" Der Forscher blühte auf, als habe er einen Bruder gefunden. Der Gemeinderat grinste und dachte: Eigentlich muss man das hier aufschreiben, Wort für Wort. 

"Ganz unter uns", sagte der Forscher, "aber behalten Sie das bitte wirklich für sich: Wissen Sie, wie groß ich war, als ich vor dreißig Jahren mit dem Wachsen aufhörte? Einen Meter zweiundsiebzig. Und ich bin dann nicht etwa noch mal weiter gewachsen!"

"Dann sind Sie ja ein Außerirdischer! Oder sonst wie ein Nicht-mit-Geschrumpfter! Das ist was fürs Tagblatt!"

"Nein nein, keinesfalls! Die Forschung muss zunächst einmal beweisen, dass ..."

"Ist schon klar", sagte der Gemeinderat, "dann gehen wir jetzt mal ins Rückgebäude, ich zeige Ihnen die Kiste. Es wird allerdings etwas dauern, die schwarzen Steine herauszusuchen."

"Nein, das wird leicht sein."

"Ich muss doch erst alles aus der Kiste nehmen und ausbreiten."

"Es liegt alles schon da."

"Waren Sie da etwa schon - dran??" 

"Nein, war ich nicht. Ich weiß jetzt schon: Die Kiste ist geplatzt, alles dürfte ziemlich übersichtlich herumliegen."

Der Gemeinderat sprang auf und rannte ins Hinterhaus, ohne sich weiter um seinen Gast zu kümmern. Der folgte gemächlichen Schrittes, wusste zwar einen Moment lang nicht, wohin der andere verschwunden war, konnte aber dann dessen Stimme folgen, genauer gesagt, einem lauten Geschrei:

"Es stimmt! Ich glaub, ich spinne! Wo gibt's denn so was? Sie schrumpft tatsächlich!"

(Ende)

Sten Nadolny ist ein deutscher Schriftsteller.

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