Weltbild und Zeitgeschehen
Das Atom galt lange Zeit als unteilbar – bis im 19. Jahrhundert in seinem Inneren ein von komplizierten Kräften bestimmtes „Kollektiv“ von Teilchen entdeckt wurde. Wie die Physik diese erkennt und benennt, spiegelt unsere Zeitgeschichte.
Das Zeitalter der Moderne gründet unter anderem auf zwei miteinander verschränkten Konzepten: dem des Atoms und dem des Individuums. Beide Begriffe beschreiben die kleinste Einheit eines Systems. Das Atom steht für die kleinste physikalische Einheit der von Schwerkraft bestimmten unbelebten Welt, das Individuum für den Kern von Gesellschaft, gleichsam die kleinste lebende Einheit. Beide Wörter bedeuten das Gleiche, mal lateinisch, mal altgriechisch: das Un-teilbare. Aristoteles etwa verwendete den Atombegriff für Menschen und für Dinge. Beide Wörter haben sich im Lauf der Geschichte als Bezeichnung für ihren Gegenstand jedoch als unzulänglich erwiesen. Ihre semantische Gleichheit erlaubt uns dafür interessante Einblicke in das Miteinander von Weltbild und Zeitgeist.
Die Idee des Atoms als kleinstes, unteilbares physikalisches Teilchen existiert schon in Naturphilosophien der Antike sowohl Griechenlands als auch Indiens. Experimentell wurde sie im 19. Jahrhundert durch Arbeiten von John Dalton, Joseph Louis Gay-Lussac und Ludwig Boltzmann verfolgt. Bereits 1897 allerdings wurde die Idee der Unteilbarkeit des Atoms mit der experimentellen Beobachtung von Emil Wiechert endgültig erschüttert: Der negativ geladene Teilchenstrom, der im luftleeren Raum der Braun’schen Röhre von Kathode zu Anode fließt, musste kleiner als die Atome selbst und Teil von ihnen sein. Kurz darauf bestimmte Joseph John Thomson die Masse dieser Teilchen, für die der Name Elektron, altgriechisch für „Bernstein“, gewählt wurde, einem früheren Vorschlag George Johnstone Stoneys und Hermann von Helmholtz‘ folgend. Allerdings waren diese beiden Physiker 1874 in ihren theoretischen Annahmen davon ausgegangen, dass die elektrischen Ladungsträger mit dem Atom verbunden seien, nicht aber Teil des Atoms wären. Rasch zeigte sich, dass das Elektron gleichsam die Hülle des Atoms bildet. Im Kern des Atoms fand sich das positiv geladene Proton.
Das Interesse nach der inneren Beschaffenheit der Atome, ihrer Dynamik und Strukturen verstärkte sich. Erste Antworten lieferte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Quantenmechanik, insbesondere Versuche im Bereich der Quantenoptik, etwa im Doppelspaltexperiment. Sie festigte nicht bloß die Erkenntnis über die Existenz von Elementarteilchen im Inneren von Atomen, sondern zeigte, dass die Materie auf dieser Ebene je nach Anschauung auch Wellencharakter besitzt, also mit dem Teilchenbegriff nur unzulänglich beschrieben ist. Der „Welle-Teilchen-Dualismus“ warf ein Licht auf die Rolle des Beobachtungsapparats und stellte bisherige Standards der Objektivität auf die Probe.
Die Funde riefen eine Kaskade erkenntnistheoretischer Absicherungsmechanismen hervor, etwa Karl Poppers berühmtes Prinzip der Falsifikation. Dargelegt 1934 in seinem Werk „Logik der Forschung“ zielt die Falsifizierbarkeit nicht auf Bestätigung einer Erkenntnis, sondern auf die Widerlegung einer Hypothese. Das Ende des Atoms als Unteilbares führte zu einer naturphilosophischen Blütezeit und zu fantastisch abgründigen Gedankenexperimenten, etwa durch Erwin Schrödinger, der sich 1935 eine Katze im Quantenraum in einem Zustand der Überlagerung dachte, die gleichzeitig tot und lebendig ist – und beobachtungsabhängig den Gastod stirbt oder nicht. Schrödinger war Frontsoldat im 1. Weltkrieg und wurde unweit des Isonzo eingesetzt, wo die österreichisch-ungarische Armee ihre ersten großen Giftgaseinsätze befehligte. Der Krieg schreibt sich auf vielerlei Weisen in die Wissenschaften ein.
Seit der Entdeckung des Elektrons wurden sowohl im Labor als auch durch Messungen kosmischer Strahlung in der Erdatmosphäre immer weitere Teilchen vorhergesagt und entdeckt. Sie bilden im Inneren des Atoms ein von Kräften bestimmtes „Kollektiv“, die das Ganze ausmachen. Während dieser Begriff des Kollektivs zunächst in der Gesellschaftstheorie wirkmächtig geworden war, entfaltete er nun, durch die Funde immer mehr Elementarteilchen, ins Innere des Atoms übertragen ein ganz neues Bedeutungsgewebe und weitere Erkenntnisebenen.
Das Elektron stellt heute eines von sechs Leptonen dar. Gemeinsam mit Quarks bilden Leptonen die Gattung der Fermionen und werden in drei verschiedene Generationen von Materie-Teilchen unterteilt. So ist bei den Leptonen etwa das Elektron Teil der ersten Generation, das Myon zählt zur zweiten Generation und das Tau wird der dritten Materiegeneration zugeordnet. Zu jedem dieser Teilchen kommt nach dem Standardmodell der Physik auch ein ihm symmetrisch gedachtes Antiteilchen hinzu. Dabei handelt es sich um ein theoretisches Konzept, das sich wiederum aus den experimentellen Messungen der Quantenphysik ergibt.
Sogar Albert Einstein wollte die Verschränkung von Teilchen nicht akzeptieren und sprach von ,spukhafter Fernwirkung‘. Für ihn war die Welt determiniert, Gott würfele nicht, meinte er.
In den 1950er Jahren wurde von einem subatomaren „Teilchenzoo“ gesprochen, ein Begriff, der über den vorherrschenden Exotismus ebenso wie über das damalige Wissenschaftsverständnis Aufschluss gibt. Überhaupt erinnern Elementarteilchen-Klassifikationen und ihre Stammbäume, wie sie im gängigen Standardmodell der Physik zusammengefasst sind, bei der Betrachtung in ihrer diagrammatischen Gestalt auch an Genealogietafeln in ethnologischen Verwandtschaftssystemen und nicht bloß an das chemische Periodensystem der Elemente, dem sie nachgebildet wurden. Das physikalische Standardmodell kennt aus dem Zusammenspiel von Theorie, Experiment und ihren jeweiligen Medien noch mehrere wechselwirkende Teilchen, Bosonen etwa, von denen das Higgs-Boson, populärwissenschaftlich als „Gottes-Teilchen“ bekannt, im Jahr 2012 am CERN, dem zwischen Schweiz und Frankreich gelegenen Europäischen Zentrum für Kernforschung, nachgewiesen werden konnte. Es ist für die Theorie des Higgs-Mechanismus zentral, verweist seine Existenz in Form eines quantenmechanischen Felderregungszustandes schließlich auf das Higgs-Feld, mit dem alle Elementarteilchen wechselwirken und so Masse erhalten, anstatt bloß Licht und Energie zu sein.
Was sich im Kosmos der Elementarteilchen ereignet, erschien für das moderne Weltbild mit seinem auf Rationalismus und Individualität gründenden Verständnis vom Dasein alles Lebenden und Unbelebten zunächst ungeheuerlich. Sogar Albert Einstein wollte die Verschränkung von Teilchen nicht akzeptieren und sprach von „spukhafter Fernwirkung“. Für ihn war die Welt determiniert, Gott würfele nicht, meinte er. Gegen Ende seines Schaffens schenkte er der Teilchenphysik keine Aufmerksamkeit. Das verstanden viele nicht, auch der Physiker Jack Steinberger, mit dem ich 2017 ein Gespräch führen konnte. Der 1921 geborene Steinberger musste als Jugendlicher aus Bad Kissingen in die USA emigrieren, weil er nach den Rassegesetzen im Deutschen Reich als Jude galt und damit Verfolgung ausgesetzt war. Während des Zweiten Weltkriegs wirkte er als Student am MIT im Signal Corps der US Army mit und lernte bei der Entwicklung eben jener Radartechnologien, die für die Kybernetik von wissenschaftstheoretischem Interesse waren und den Luftkrieg der Alliierten stützten, das Arbeiten in großen Experimentalkollaborationen – und die Abneigung gegen den Krieg. Als ich ihm begegnete, war sein erster Satz: „Ich habe als junger Mann an einer Technologie mitgearbeitet, die Millionen Menschen das Leben gekostet und fast alle Städte in Deutschland vernichtet hat.“ Er setzte sich später für eine friedliche Kernforschung ein. Für die Entdeckung des Pions, eines weiteren Elementarteilchens, erhielt er den Nobelpreis. Steinberger jedenfalls erzürnte sich auch noch hochbetagt darüber, dass Einstein die Teilchenfunde überging und sich nicht mit den zeitgemäßen Erkenntnissen konfrontierte. Nicht bloß, weil er ihn für ignorant hielt, sondern weil er der Meinung war, jemand wie Einstein hätte mit der Zeit gehen sollen, sein Weltbild anpassen müssen, wäre er doch so in der Lage gewesen, auch auf seine alten Tage hin noch etwas Neues entdecken zu können.
Das Atom ist Viele. Die Funde über sein Inneres verdeutlichen, dass die Welt Gründe in sich birgt, die der Physik auch zukünftig viel Forschungsraum bieten. Aus dem, was und wie die Physik aber erkennt, lässt sich ein Spiegel ihrer Zeit herstellen. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, dass das Atom nicht umbenannt wird, etwa in Polytom, das Vielteilbare, obwohl es eher das ist, als a-tomos. Die Erinnerung an vergangene Weltbilder in seinem Namen erlaubt in der Gegenwart zu erkennen. Wie es sich mit dem Individuumsbegriff verhält, soll an anderer Stelle besprochen werden. Festzuhalten bleibt: ob Atom oder Individuum, Belebtes und Unbelebtes, alles tanzt im Polyrhythmus der Geschichte – um eine weitere Metapher zu gebrauchen.
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