#momlife

Das 19. Jahrhundert hat die bürgerliche Familie erfunden, das 21. Jahrhundert die sozialen Medien. Wie viel Biedermeier steckt in der öffentlichen Inszenierung von Familie heute?

 

Mutter mit Tochter auf kobaltblauem Sofa, Vater mit Pfeife am Tisch, zwei Söhne mit ernsten Mienen einander zugewandt. Das Interieur sowie die Stimmung streng aufgeräumt. Gardinen und Kinder frisch gewaschen. Die Schnittblumen in der Vase, das Obst in der Schale sorgfältig arrangiert. Alles ist in Ordnung auf diesem Familienporträt.

Joseph Hartmann: Familienbildnis des Forstmeisters Wilhelm Heinrich Seyd, 1845, Öl auf Leinwand, 69 x 79 cm, Darmstadt, Hessisches Landesmuseum.

Das Fenster im Hintergrund öffnet sich auf romantische Berglandschaften. Doch keine der Figuren schaut nach draußen, alle Blicke gehen in den familiären Innenraum. Es ist Biedermeier und Schluss mit romantischer Lustigkeit. Nicht das Schweifen in die Ferne, sondern der Rückzug ins Häusliche steht auf der bürgerlichen Tagesordnung. Vermutlich ist das Porträt an einem Sonntag entstanden. Der Vater muss nicht arbeiten, die älteren Kinder sind von ihren Schulpflichten befreit. Allein die Mutter kennt keine Freizeit. Sie widmet sich ganz und gar dem familiären Glück. Die Kinder sind der Mittelpunkt ihres Lebens. Sie weiß, was sie als Mutter zu tun hat. Wenn es ihr nicht der Zeitgeist einflüstert, dann kann sie es in einem der zahlreichen populären Ratgeber nachlesen.

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Das 19. Jahrhundert hat die bürgerliche Familie erfunden, das 21. Jahrhundert die sozialen Medien. Es ist nicht lange her, da ist die erste Generation der ‚Digital Natives‘ erwachsen geworden. Heute weiß eine Mutter, wie man auf instagram unterwegs ist. Postete sie in ihrem prä-maternalen Leben zu Mode, Reisen und gepflegtem, im Glücksfall auch zu ungepflegtem Ausgehen, dann setzt sie jetzt auf Inneneinrichtung, Kinderkleidung und Kochen. Das ist das gegenwärtige Standardrepertoire in #momlife. Wer Familie hat und instagram zu nutzen weiß, liefert täglich visuellen Familienanschluss.

Zum Beispiel: eine sechsköpfige Familie auf mintfarbener Cordcouch. Die vier Kinder mit dem Rücken zur Betrachterin. Kleine Chelsea-Boots mit Sand in den tiefen Profilen vom Draußen-Spielen. Edel-Schmutz im Edel-Schuh. Kinder und Stimmung wild ausgelassen. Inneneinrichtung sowie Vater lässig smart.

Und die Mutter? Sie passt auf, dass das Foto gut wird. Ihr Blick scheint uns sagen zu wollen: „Ja, so fröhlich geht es bei uns nun mal zu. Aber ist das nicht schön!?“ Und in der Tat, es sieht toll aus. Tolle Mini-Chelseas, tolles Retro-Sofa, tolle Stimmung! Die Bildunterschrift: „Familienfoto 2021. Ich liebe die alle so sehr! ♥“ Über 2.000 Followern gefällt das. Sie kommentieren: „Ihr seid so eine tolle, schnuckige, schöne, wunderwunderschöne Familie!“ Andere fragen die richtigen Fragen: „Wo kommt denn das Sofa her?“, „Und wo die vielen chiquen Chelseas?“ „Und Dein Pulli?“ Und natürlich ununschuldig: „In welcher Größe trägst du ihn?“ Wer mehr davon will, muss nur den Hashtag #momlife eingeben und schon verwandelt sich das Mobiltelefon in ein unendliches Familienalbum.

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Das ist verführerisch. Ist der Familienaccount erst einmal in Fahrt, kann man nicht anders, als stündlich über die aktuelle Lage im Haus zu berichten. Und als Followerin verzichtet man nur ungern darauf, sich alle sechzig Minuten auf dem Laufenden zu halten. Jeden Morgen zwischen 6 und 10 Uhr klagt @Strahleanna aus Essen darüber, wie wenig sie bisher geschafft hat. Meist nur die Wäsche. @diesundjenes geht mit den Hunden durch ihren Kölner Vorort spazieren. @oneeggthreekids aus Buxtehude hat mit ihren Drillingen zu kämpfen. Die machen Zähneputzen zum Kinderspiel. Kurz: Die Dinge wiederholen sich. Alltag eben. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Hashtag #doglife auftaucht. #laundryroommakeover gibt es schon lange. Falls Sie da gerade Tipps benötigen.

Es werden viele Fragen gestellt und noch mehr gute Antworten gegeben. Alles im Ton freundschaftlicher Intimität. Zärtlich küssende und fest sich umarmende Emojis fliegen permanent hin und her. Fremde werden erstaunlich rasch zu alltäglichen Wegbegleitern, die man nicht mehr missen möchte. Der Reflex gegenseitiger Bespiegelung funktioniert gut. Denn alle machen irgendwie das Gleiche. Um sich trotzdem von den anderen abzuheben, muss also ein Trick her: der individualisierte Filter als Branding mütterlicher Singularität! Er taucht das jeweilige #momlife in die immer gleiche Stimmung. Treffen sich zwei Mütter, führt das schnell zu Irritationen. Wer normalerweise durch warmes Sepia lächelt, der sieht in der strahlenden Helle einer anderen Mutter auf einmal ganz blass aus. Filter sind hier die gar nicht so geheime Hauptwährung, besteht das Image doch vor allem in der richtigen Ausleuchtung: ‚The filter is the message!’

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Enttäuschung und Langeweile machen für das Glücksversprechen schöner Waren besonders empfänglich. Haushalt und Konsum gehörten immer schon zusammen. Denn Lifestyle, so die fatale Wette der vielen Bovarys, bringt Familienglück. Deshalb macht #momlife den Alltag zum Spektakel. Je mehr Follower, desto größer die Reichweite und desto besser die Erwerbsaussichten. Reicht der Andrang für mehrere Accounts aus, dann werden Filialen eröffnet, die sich auf Themen wie Kinderkleidung, Hauskauf oder Heiraten konzentrieren. Diese Insta-Ausdifferenzierung führt zur Erweiterung des medialen Portfolios. Blogs und Vlogs protokollieren das #momlife in jeder denkbaren Lebenslage. Und auch in denen, an die man noch nicht gedacht hat, zum Beispiel der Mülleimer-Einkauf bei dm.

Stilistisches Kapital zahlt sich am Ende aus. Das weiß man spätestens, wenn man kommentiert: „So viele haben gefragt, woher ich diese Babydecke habe. Da kann ich einfach nicht anders, als Euch den online shop zu verlinken. Wenn ihr mögt, gebt doch den Code Janina007 ein, dann bekommt ihr 0,07 Prozent Rabatt…“. Ergänzt werden müsste: „Weil ihr damit zeigt, dass ihr meine Freundinnen bzw. Kundinnen seid, was sich wiederum positiv auf meine Publicity auswirkt…“. Ist das Privatleben von seinen alltäglichen Füßen erst einmal auf den kapitalistischen Kopf gestellt, dient der Familienglamour nur noch nebenbei dem häuslichen Segen. Vor allem ist er eine Verkaufsstrategie.

Die bürgerliche Ausdifferenzierung von privatem und öffentlichem Raum bzw. von Familie und Arbeit greift hier nicht mehr. Die Spektakularisierung des Familienlebens verwandelt die Privatsphäre zum einträglichen Arbeitsplatz der Mutter.

Traditionellerweise geht die Debatte um das Hausfrauendasein so: Familien und Familienpolitiker sind mit dem Dilemma konfrontiert, dass Care Work zwar systemrelevant, aber unbezahlt ist. In der Theorie drängen sich zwei Lösungen auf. Entweder wird die Hausfrau für ihre Reproduktionsarbeit vom Staat bezahlt oder von diesen Aufgaben befreit, um außerhäuslich, das heißt erwerbstätig zu arbeiten. In der Praxis gelingt beides nicht. Irgendjemand muss am Ende die Wäsche waschen. Wenn die Mutter und Ehefrau das nach der Arbeit noch erledigen muss, ist zumindest ihr nicht geholfen.

Die italienische Intellektuelle Silvia Federici hat in den 1970er Jahren eine Kampagne zur Befreiung der Frauen von der Hausarbeit geführt. Würde sie dies heute tun, müsste sie den Hashtag #wagesagainsthousework lancieren. Wahrscheinlich wäre er aber zu kompliziert. Steckt doch in „against“ eine dialektische Aufklärungsstrategie: Hausarbeit soll bezahlt werden, damit sie sichtbar wird. Niemand soll mehr übersehen können, dass ohne Erziehung der Kinder und Versorgung der erwerbstätigen Männer kein Geld zu machen ist. Federici ging es aber nicht nur um Anerkennung. Das Gehalt für Hausfrauen sollte zeigen, dass Hausarbeit nicht die natürliche Arbeit der Frau ist. Letztendlich forderte sie die Verteilung der häuslichen Aufgaben auf alle Geschlechter, damit Frauen gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilnehmen können.

Auf den ersten Blick scheint #momlife diesen Konflikt ohne Geschlechterkampf gewonnen zu haben. Ohne Kind und Küche den Rücken zu kehren, wird Geld verdient. Die bürgerliche Ausdifferenzierung von privatem und öffentlichem Raum bzw. von Familie und Arbeit greift hier nicht mehr. Die Spektakularisierung des Familienlebens verwandelt die Privatsphäre zum einträglichen Arbeitsplatz der Mutter. Ihr Geschäftsgeheimnis: Die täglichen Inszenierungen heimeliger Gemütlichkeit verschleiern den Blick auf die von Habermas beklagte „Kommodifizierung lebensweltlicher Zusammenhänge“1. Werbung für pastellfarbene Haushaltswaren fühlt sich wie der stilsichere Rat einer Freundin an.

Das Private ist hier nicht mehr politisch, sondern, wie die britische Feministin Nina Power formuliert: „it’s economic through and through.“2 Auf den zweiten Blick verhindert #momlife politische Entwicklungen. Der Wunsch zu konsumieren und Einkäufe zu influencen lässt keinen Platz für wirkliche Veränderungen. Es ist ungerecht, den instagram-Müttern das vorzuwerfen. Schließlich posten sie nicht für den Geschlechterkampf. Aber sie könnten ihre Reichweite dafür nutzen, wenn sie wollten. Das tun sie aber fast nie.

#momlife geht es vielmehr um die finanzielle Einträglichkeit sozialer Medialität. Diese Dynamik katapultiert Habermas‘ Rede vom Privaten als „Glück im Winkel“3 in eine neue Topologie. Die idyllische Nische wird zum Brennpunkt, von dem aus sich das Private großzügig in die ganze Welt versendet. Habermas konnte davon nichts ahnen, als er Anfang der 1960er Jahre über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nachdachte. Aber kulturindustriell angeheizte Freizeitgestaltung hatte er als Vertreter Kritischer Theorie natürlich schon im Blick. Auch wenn die gesellschaftlichen Spektakel des analogen Kapitalismus‘ angesichts von instagram harmlos erscheinen, sprach Habermas bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert von einer „Scheinwerfer“- bzw. „publikumsbezogene[n] Privatheit“. Das private Familienleben hat sich von dem Repräsentativitätsdrang aristokratisch-höfischer Lebensformen augenscheinlich nie ganz loslösen können. Mit #momlife kehrt nun sogar die stilisierte Zeremonie von lever et coucher zurück. Freilich unter verkehrten Vorzeichen: Es resultiert nicht aus dem Zwang persönlicher Öffentlichkeit, sondern drückt den Wunsch nach öffentlicher Privatheit aus. Das ganze Leben wird der Erfüllung des „Singularisierungsversprechen[s]“ mit Aussicht auf „öffentliche Sichtbarkeit und […] Distinktionsgewinn“ unterstellt. Denn daraus lässt sich Kapital schlagen.

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Der Vorwurf, die Familie zur Ware, gar zum Warenfetisch zu machen, liegt nah. So berechtigt eine Kritik daran ist, darf nicht übersehen werden, dass #momlife zu tatsächlichem Austausch und gegenseitiger Unterstützung führt. Bei aller Sorge um den Zerfall deliberativer Öffentlichkeiten und demokratiesichernder Infrastrukturen kann niemand bestreiten, dass #momlife Raum für Solidarität im Alltag bietet. Obwohl die vielen Mütter räumlich weit voneinander entfernt sind, schafft der alltägliche Austausch Intimität. Ob es morgens gut mit der Wäsche gelaufen ist, ob der kleine Hans sein Spielzeug wiedergefunden hat und wie es um den Garten steht – all das sind Allgemeinplätze, die Platz für Gemeinsames machen. Sie sind zwar virtuell, deshalb aber nicht fake. Der Kult der Kleinfamilie hat viele Mütter ins Private verbannt. Die Spektakularisierung der Kleinfamilie holt sie zurück auf den Marktplatz, über dessen Eingang Von Familien für Familien stehen könnte. Da wird verkauft und gefeilscht. Da wird aber auch erzählt und beraten.

Allerdings nur unter denjenigen Frauen, die sich ebenso gut zum Golfen oder Tennisspielen treffen könnten. Wenn #momlife sich überhaupt den Feminismus auf die Fahnen der Accounts schreiben möchte, dann ist es ein Feminismus für die Happy Few. Denn mit einem „Feminism for the 99%“5, wie ihn Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser fordern, hat #momlife nichts zu tun. Und schon gar nicht denkt #momlife an ein Zuhause als Ort des Widerstandes, wie bell hooks es für die Black Community in den USA der 1970er Jahre beschreibt. Da war die Nichtöffentlichkeit des Privaten die Möglichkeitsbedingung dafür, ein politischer Ort zu sein, an dem man sich sicher vor Diskriminierungen fühlen konnte.

Über all diese Fragen haben sich die Mütter des Biedermeiers keine Gedanken gemacht. Trotzdem sind sie ein wichtiger Teil der Geschichte. Sie waren die ersten Hausfrauen überhaupt. Erst im 18. und 19. Jahrhundert wurde ihr spezifisches Aufgabenfeld abgesteckt6. Blickt man noch weiter zurück in die Vergangenheit, sieht man: Es ging auch mal anders und in Zukunft hoffentlich noch besser: #genderequalityforall!

 

1 Jürgen Habermas, „Überlegungen und Hypothesen zu erneutem Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“, in: Leviathan, Sonderband Nr.37 (2021), S. 470-500, hier S. 493.

2 Nina Power, One-Dimensional Woman, Winchester/ Washington: 2009, S. 26.

3 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/ Berlin: 1962, S. 192.

4 Ebd., S. 193.

5 Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser, Feminism for the 99%. A Manifesto, London/ New York: 2019.

6 Vgl. Michelle Perrot, Mon histoire des femmes, Paris: 2006, S. 154f. und Elke Rulffes: Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, Hamburg: 2021.

 

Johanna-Charlotte Horst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München.

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