Zu viel Wahrheit

Im postfaktischen Zeitalter scheint die Wahrheit in Gefahr. Aber ist sie das wirklich? Wir ertrinken doch geradezu in Fakten, Wissen, Tatsachen. Könnte es sein, dass es zu viel Wahrheit gibt?

 

Viel war zu lesen in den letzten Jahren über die Gefährdung der Wahrheit. Sie werde relativiert, verwischt, entwertet oder schlicht geleugnet. Im postfaktischen Zeitalter, wie wir unsere Gegenwart gerne nennen, ist die Wahrheit – so scheint es – weder Anspruch noch Einspruch mehr. Zu oft werde sie zu Fake erklärt oder umgekehrt der Fake zur Wahrheit. Das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl etwa wird genau von denen als Fake bezeichnet, die zugleich fest an die Herrschaft der Illuminaten glauben. Die Wahrheit auf seiner Seite zu haben, so stellen wir bestürzt fest, nützt in der Politik, in der Öffentlichkeit oder auch im privaten Alltag nur noch wenig. Im Kanon der individuellen Überzeugungen scheint die Wahrheit eine immer leiser werdende Stimme zu sein. Deshalb müsse sie, so heißt es oft, geschützt und verteidigt werden – wie die Natur oder das Klima.

Wie viel Wahres steckt in dieser Rede von der gefährdeten Wahrheit? Besteht das Problem wirklich darin, dass die Wahrheit als Grundwert unserer gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und moralischen Ordnung keinen Stellenwert mehr besitzt? Berufen sich denn die Zerstörer der Wahrheit bewusst auf das Unwahre und Falsche? Wollen sie lügen? Bei genauerem Hinsehen kann man da seine Zweifel haben. Denn ‚faktisch‘ besteht das Postfaktische gar nicht in einem Angriff auf die Wahrheit, sondern darin, ihr andere, ‚alternative‘ Wahrheiten entgegenzustellen. Niemand ist überzeugter von der Kraft der Wahrheit und ihren heilsamen Effekten als gerade diejenigen, die den abstrusesten Theorien anhängen. Sie bringen ihre Wahrheiten gegen die ‚große Lüge‘ in Stellung, zelebrieren die Kritik am Hergebrachten und verstehen sich als lichtbringende Aufklärer, die uns den Schleier von den Augen reißen wollen. Ideologiegeschichtlich ist dieses Muster längst bekannt. Jürgen Habermas hat bereits vor Jahrzehnten präzise analysiert, auf welche Weise Ideologien seit der Aufklärung die Aufklärung nachahmen, vom Gestus der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen leben und sich auf ein rationales Wissen von der eigentlichen Wirklichkeit berufen: „Ideologien sind gleichursprünglich mit Ideologiekritik. In diesem Sinne kann es vorbürgerliche Ideologien nicht geben.“

Und ‚bürgerlich‘ sind die heutigen Verschwörungstheoretiker und sonstigen Postfaktischen allemal. Sie vertreten keine partikularen Sonderinteressen, sondern kommen aus der Mitte der Gesellschaft, die sie als ‚Volk‘ und ‚schweigende Mehrheit‘ zelebrieren. Ihre Wahrheiten, so abstrus sie sich auch anhören, sind durchaus rational und ideologiekritisch in dem Sinne, dass sie die bekannte und akzeptierte Welt zum Schein erklären und als Schein enttarnen wollen, indem sie auf eine hintergründige, eigentliche Wahrheit verweisen, die nur noch nicht erkannt wurde oder gar aktiv verdrängt und verboten wird. Formal gingen und gehen Aufklärung und Wissenschaft nicht anders vor. Dass alle Menschen vernunftbegabt sind, dass der Mensch aus Zellen besteht und vom Tier abstammt, dass die Zeit relativ und der Raum gekrümmt ist oder dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt – das alles sind Wahrheiten, die im ideologiekritischen Gestus der Entschleierung formuliert wurden und von denen manche anfänglich als gefährliche Verschwörungstheorien betrachtet wurden.

Moderne Wahrheiten sind immer auch wahrheitskritisch; sie leben nie nur von der ‚Entdeckung‘, sondern immer auch vom Zweifel am bisherigen Wissen. Der einzige, aber entscheidende Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der verschwörungstheoretischen Wahrheit liegt darin, dass die eine mit der Zeit Anerkennung findet, während die andere im Modus der Entlarvung verharrt.

Eben dieser Unterschied aber wird heute von beiden Seiten unsichtbar gemacht. Auf die schrillen Töne der Verschwörungstheoretiker und ihre alternativen Fakten reagieren die Wächter der Wahrheit mit einer oft ähnlich schrillen Verteidigung des Faktischen. Fast jede Zeitung (gedruckt oder digital) und fast jede Nachrichtensendung hat inzwischen eine ‚Wahrheits‘-Rubrik, einen ‚Faktenfinder‘ oder einen ‚Realitätscheck‘, wo die Wahrheit von Fake und Lüge scheinbar befreit wird, damit die Menschen wieder klarsehen. Und auch politische Entscheidungen legitimieren sich heute fast ausschließlich durch Expertisen, ‚objektives‘ Wissen und Tatsachen, deren Produktion und Bereitstellung von der Wissenschaft immer direkter eingefordert werden.

Dabei geben die Wächter der Wahrheit die eigentliche Schuld am heutigen ‚Angriff‘ auf die Wahrheit nicht selten den sogenannten ‚Relativierern‘: der wahrheitskritischen Philosophie von Nietzsche bis Derrida oder auch der wahrheitsskeptischen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Sie und überhaupt das Denken der Postmoderne hätten die Wahrheit geschwächt, ausgehöhlt und damit dem heutigen verschwörungstheoretischen Angriff auf sie Vorschub geleistet. Über diesen Zusammenhang ließe sich sogar diskutieren, wenn diese Schuldzuweisung nicht regelmäßig mit dem impliziten Plädoyer einherginge, zu der naiven Vorstellung zurückzukehren, das Wahre sei das Faktische.

In diesem Sinne sind Verschwörungstheorien so etwas wie die ‚dunkle Seite‘ der heutigen Wahrheit. Sie leben vom gleichen Glauben an die Macht des Faktischen.

Denn eben das ist auch die Leitformel des Postfaktischen. Kaum jemand ist verliebter in Belege, Beweise, Fußnoten, Statistiken, Experten und Autoritäten als die Verschwörungstheoretiker. In ihrer obsessiv auf Dauer gestellten Demaskierung des Geltenden als Schein und Lüge geht es überhaupt nicht um Relativierung, Kritik oder Zweifel, sondern, in geradezu binärer Logik, um die Konfrontation des Gegebenen mit einer anderen, ‚alternativen‘ Wahrheit. Was genau an der geltenden Wahrheit nicht stimmt, wie genau sie dennoch ihre Geltung bewahrt, wie sie funktioniert, wem sie dient, warum sie geglaubt wird – all diese Fragen werden im postfaktischen Denken nicht gestellt. Denn sie sind von vorneherein Teil des Narrativs der Verschwörung selbst, das als die große andere und eigentliche Wahrheit präsentiert wird. Dieses Narrativ aber kreist um sich selbst, erfindet immer wieder neue Kausalitätsketten, Feinde und Verschwörer, bezieht sich aber nie direkt auf die geltende Wahrheit, sondern stellt ihr, in ewigen Entlarvungsschleifen, eine immer kompliziertere ‚wahre‘ Wahrheit entgegen. Diese Spiegelreflexlogik bedingt, dass auch die ‚alternative‘ Wahrheit nur einen Existenzmodus kennt: das Faktische. Covid gibt es nicht, Merkel will uns abschaffen, die Erde ist flach, Linke essen Kinder, die Juden beherrschen uns – in dieser unendlichen Aneinanderreihung von ‚Fakten‘ wird nichts erklärt, begründet, erörtert oder hergeleitet. Denn die Fakten sprechen für sich. Genau wie bei ‚uns‘, die wir die Wahrheit retten wollen, indem wir auf ‚Fakten‘ pochen. In diesem Sinne sind Verschwörungstheorien so etwas wie die ‚dunkle Seite‘ der heutigen Wahrheit. Sie leben vom gleichen Glauben an die Macht des Faktischen.

Eben deshalb wuchern sie auch, breiten sich aus, überzeugen Millionen. So wie alles, was die Vorsilbe ‚Post‘ trägt, nur selten ein echtes ‚Nach‘ markiert, meint auch das Postfaktische nicht etwa die Überwindung des Faktischen, sondern die ideologieträchtige Aufhebung seiner Umstrittenheit. Unser postfaktisches Zeitalter ist – entgegen seiner Selbstwahrnehmung – die Epoche, in der Faktizität Konsens und damit frei zitier- und verfügbar geworden ist. Je mehr ‚alternative Fakten‘ im Umlauf sind und je mehr wir ‚unsere Tatsachen‘ diesen entgegenstellen, desto mehr wird am (post)faktischen Konsens gefeilt und gearbeitet, desto mehr wird über nichts anderes mehr geredet und gestritten als über schiere Tatsachen. Sicher haben Tatsachen immer auch ihren eigenen und unleugbaren Wahrheitsanspruch. Doch ist dieser begrenzt auf eine binäre Funktion: Verifizierung oder Falsifizierung, ja oder nein. Es ist dieser Minimalismus des Faktischen, der so einfach in ‚Freund oder Feind‘ übersetzbar ist. Bis in den Alltag hinein schlägt sich das nieder: Streiten, Diskutieren und Debattieren besteht heute – in Talkshows ebenso wie in der Kneipe – vor allem darin, sich angebliche Tatsachen gegenseitig an den Kopf zu knallen. Wir bewerfen uns laufend mit Fakten und wundern uns, dass die Welt aggressiver zu werden scheint. Wie Freund und Feind verhalten sich heute auch Wahrheit und Lüge, Fakt und Fake symmetrisch zueinander, sind gleichbedeutsam und austauschbar: Ein binärer Gegensatz, der zusammen angeblich das Ganze ausmachen soll.

Vielleicht brauchen wir eine Verknappung der Wahrheit, einen neuen Zweifel an der Welt, eine Aufkündigung des Tatsachenkonsenses. Dass die Wahrheit mehr sei als die Summe aller Tatsachen, ist eine wohlfeile und bis heute oft wiederholte Einsicht, die aber dem gegenwärtigen Faktenkult und der Vorstellung, dass die Menschheit erlöst sei, wenn erst mal alle Tatsachen bekannt sind, kaum noch etwas entgegensetzen kann. Eher dazu in der Lage wäre vielleicht die Einsicht, dass die Wahrheit immer auch weniger ist als die Summe aller Tatsachen; dass sie von den Fakten geradezu verschüttet ist und es einer gewissen Anstrengung bedarf, sie zu finden. Auch ein solches Verständnis der Wahrheit als etwas Verborgenes ist in der modernen Denktradition alles andere als neu. Heute aber hätte es einen radikalen Effekt: Niemand mehr könnte behaupten, die Wahrheit zu haben oder nicht zu haben, sondern alle müssten sie suchen. So lange wir aber die Wahrheit mit dem Faktischen gleichsetzen, ist schlicht zu viel Wahrheit in der Welt.

Christian Geulen ist Professor für Geschichte an der Universität Koblenz-Landau.

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