Wiederholt sich die Geschichte?

Anlässlich bedeutender Ereignisse im Zeitgeschehen werden gerne historische Vergleiche bemüht. Aber wie oft wird das vermieden? Das kulturelle Erinnern scheint in einem besonderen Verhältnis zur Verdrängung möglicher Wiederholungen zu stehen.

 

»Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich«: Dieser Satz zirkuliert häufig im Internet. Gelegentlich wird er Mark Twain zugeschrieben, doch die Zuschreibung wird meistens korrigiert. Denn Twain hat in seinem – gemeinsam mit Charles Dudley Warner verfassten – Roman The Gilded Age (1873) lediglich bemerkt: »History never repeats itself, but the Kaleidoscopic combinations of the pictured present often seem to be constructed out of the broken fragments of antique legends«. Und just diese Bemerkung wird auch im Roman als Zitat markiert; sie wird nämlich vorgelesen, um die Anwesenden erraten zu lassen, welcher Zeitung der Satz entnommen wurde. Ein Satz als Wiedergänger: Er beschreibt Wahrnehmungen, die gerade heute geteilt werden. Im Schatten der globalen Finanzkrise von 2008 wurde die Weltwirtschaftskrise vom Ende der 1920er Jahre in Erinnerung gerufen, im Schatten der Covid-Pandemie die Spanische Grippe von 1918 oder die HIV-Pandemie, im Schatten des Kriegs gegen die Ukraine die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs und eine gescheiterte Beschwichtigungspolitik.

Im Horizont solcher eilig bemühter Vergleiche wird allerdings auch bemerkt, was – allen Erinnerungsanstrengungen und Gedenkzeremonien zum Trotz – in Vergessenheit geraten ist. Die Reime der Geschichte genügen keinen lyrischen Ansprüchen; sie sind widerspenstig und holprig. Finanz- und Wirtschaftskrisen gehören fast schon zum Alltag der kapitalistischen Ökonomie. Womöglich kann der Traum vom unbegrenzten Wachstum nur im Taktschlag der Krisen und Zusammenbrüche aufrechterhalten werden, wie Naomi Kleins oder Antony Loewensteins Studien zum »Disaster Capitalism« nahelegen; folglich verschwinden die meisten Wirtschaftskrisen rasch im Limbus eines kollektiven Vergessens. Ähnliches gilt für Naturkatastrophen oder Pandemien, die nicht weniger rasch vergessen werden; von den Pandemien, die während meiner eigenen Lebenszeit aufgetreten sind, erinnere ich mich lediglich an die AIDS-Pandemie, nicht aber an die Hongkong-Grippe (1968–70), die eine Million Menschen das Leben kostete, weder an die Russische Grippe (1977–78), mit 700.000 Toten, noch an die siebente Cholera-Pandemie, die im Zeitraum von 1961 bis 1990 mehrere Millionen Menschen tötete. Und obwohl gegenwärtig behauptet wird, der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei der erste bewaffnete Konflikt auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, belegen leicht zugängliche Listen mindestens acht bewaffnete Konflikte in Osteuropa und sechs in Westeuropa nach 1945, Bürgerkriege in Griechenland, Spanien oder Nordirland, die Zypern-Kriege, vor allem aber die Kriege auf dem ehemaligen Staatsgebiet von Jugoslawien.

Früher standen Reisen zu den NS-Konzentrationslagern im Zeichen der Trauer, Erinnerung und Erziehung; inzwischen schicken die Touristen Ansichtskarten aus Auschwitz und knipsen Selfies vor dem Lagertor mit der berüchtigten Aufschrift »Arbeit macht frei«.

Dem kollektiven Vergessen trotzen zwar nicht nur die Theorien zum kulturellen Gedächtnis, sondern auch die vielfältigen Praktiken der Memorialisierung im Rahmen von Gedenktagen, der Niederlegung von Kränzen, der Errichtung von Museen, Denkmälern oder Erinnerungsorten; doch inzwischen sind sie häufig zu Anziehungspunkten für den Dark Tourism avanciert, Ziele für organisierte Fahrten zu Orten des Schreckens, gleichsam für Holidays in Hell (Patrick Jake O’Rourke). Vor Beginn des Kriegs in der Ukraine wurden »Abenteuerreisen« nach Tschernobyl und Pripjat gebucht; als »Höhepunkt der Reise« fungierte die Besichtigung des »Sarkophags« über dem explodierten vierten Reaktorblock. Sarkastisch kommentiert Swetlana Alexijewitsch: »Da kann man seinen Freunden etwas erzählen, wenn man nach Hause kommt. Das ist etwas anderes als eine Reise auf die Kanaren oder nach Miami!«2 Die Black Spot-Touristen suchen keine Antwort auf die Frage mehr, wer hier gelebt hat, sondern wer hier gestorben ist. Früher standen Reisen zu den NS-Konzentrationslagern im Zeichen der Trauer, Erinnerung und Erziehung; inzwischen schicken die Touristen Ansichtskarten aus Auschwitz und knipsen Selfies vor dem Lagertor mit der berüchtigten Aufschrift »Arbeit macht frei«. In Robert Menasses Roman Die Hauptstadt (2017) wird Martin Susman als Mitglied einer EU-Delegation – anlässlich der Gedenkzeremonien zum Jahrestag der Befreiung des Lagers – nach Auschwitz geschickt; fürsorglich wird ihm empfohlen, warme Unterwäsche zu kaufen, damit er sich in der Januarkälte nicht den Tod in Birkenau hole. Später steht er vor dem Krematorium, und als er sich eine Zigarette anzünden will, laufen zwei Männer auf ihn zu: »No smoking here«3.

Solche »Wiedergänge« entspringen keiner »Wiederkehr des Verdrängten« im Sinne der Psychoanalyse, sondern vielmehr einer Verdrängung möglicher Wiederholung. Eine geteilte Trauerarbeit, die auch ihre eigene Ohnmacht gegen das Vergessen bezeugt, steht in schärfstem Kontrast zur Lust am Grauen des Todes, am morbiden Spektakel, wie es die Reiseagenturen für den »Urlaub in der Hölle« verwalten. Dabei sind die Orte, an denen sich Naturkatastrophen, Anschläge oder Massenmorde ereignet haben, oft nicht sichtbar; manchmal wirken sie so unauffällig wie die Strände der Insel Sumatra, die am 26. Dezember 2004 von einem verheerenden Tsunami getroffen wurden. Auch nicht alle Konzentrationslager wurden später zu Gedenkstätten umgebaut. In der chilenischen Atacama-Wüste, wo die Todeslager Pinochets standen, können immer noch Frauen dabei beobachtet werden, wie sie nach Knochen und Überresten ihrer Angehörigen graben; denn diese Lager wurden geschleift und planiert. Die Atacama ist die trockenste Wüste der Erde außerhalb der Polargebiete; die Luft ist sauber und klar. Die exzellenten Sichtverhältnisse haben zur Errichtung zahlreicher Observatorien auf den Wüstenbergen geführt. 2010 hat der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán einen ebenso spektakulären wie berührenden Film auf dem Festival von Cannes präsentiert; der Film des damals 69-jährigen Regisseurs wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Europäischen Filmpreis Prix Arte für den besten Dokumentarfilm. Patricio Guzmáns Film – sein Titel lautet: Nostalgia de la luz – beginnt mit eindrucksvollen Blicken durch ein Teleskop; den Interviews mit Astronomen folgen Gespräche mit den Knochensammlerinnen in der Wüste. Der Astronom Gaspar Galaz kommentiert, dass zwar sowohl diese Frauen als auch die Astronomen nach Antworten in der Vergangenheit suchen, aber dass die Suche der Frauen selbst nach bald drei Jahrzehnten ein traumatisches Unternehmen bleibe. Vicky Saavedra erzählt etwa, wie sie den im trockenen Wüstenklima konservierten Fuß ihres Bruders entdeckte und danach einen Tag lang geweint habe. Der Film endet mit der Frage, was mit den gefundenen Knochen passieren werde, ob sie in ein Museum gebracht oder regulär bestattet werden sollen. Zuletzt sehen wir die alten Frauen beim Besuch eines Observatoriums. Die Szene ist berührend: Wir sehen, wie die Frauen durch die riesigen Teleskope blicken, wie sie in eine tiefe Sternenvergangenheit schauen, die eine Art von Trost zu vermitteln scheint.

Mark Twain hat Recht: Die Geschichte wiederholt sich nicht. Allenfalls wird sie für die Gegenwart neu montiert: als Element touristischer Reisen in die Herzen der Finsternis, als Kaleidoskop zerbrochener Fragmente alter Mythen, Erzählungen von Hybris, Vertreibung und Untergang.

 

 

1 Mark Twain / Charles Dudley Warner: The Gilded Age: A Tale of To-day. Hartford/Connecticut: American Publishing Company 1876. S. 430.

2 Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aktualisierte Neuausgabe. Aus dem Russischen übersetzt von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt. Berlin: Suhrkamp 2019. S. 371.

3 Vgl. Robert Menasse: Die Hauptstadt. Roman. Berlin: Suhrkamp 2017. S. 139.

Thomas Macho leitet seit 2016 das IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften / Kunstuniversität Linz in Wien. Von 1993 bis 2016 war er Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

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